„Wer nichts zu verbergen hat, der muss auch nicht anonym surfen“, dachte ich früher. Doch dann fiel mir auf, dass inzwischen längst andere entscheiden, was an wem verdächtig sein könnte. Irgendwann wird irgendjemand beschließen, dass eine meiner Interessen höchst verdächtig ist. Ab dann sollte ich über diese Interessen nur noch anonym sprechen und schreiben. Diese Artikelserie berichtet über meinen Einstieg in die anonyme Kommunikation und ist ein Vorgeschmack auf den Alltag derer, die zukünftig verdächtig sein werden.
Was bisher geschah: mein neuer, unsichtbarer Freund Frank Ahearn machte mir klar, dass wahre Anonymität im Internet nur mit neuer Hardware möglich ist. Existierende Hardware ist bereits physisch mit meiner Person verbunden und daher für anonyme Kommunikation ungeeignet.
Darum kaufe ich heute neue Hardware für meine anonymen Vorhaben im Internet. Schon werfe ich den Rechner an, um mich bei Amazon etwas schlau zu machen, was es denn für Hardware gibt. Frank brüllt mir ins Ohr: „You fuckin’ goof! Physical contact!“
Frank hat recht: ich surfe gerade als ich (!) und suche mir über Amazon (!) eine neue Hardware für meine anonyme Identität raus. Dümmer gehts nicht, obwohl: sofort über Amazon kaufen, wäre der Gipfel der Dummheit gewesen.
Unauffällig surfe ich noch etwas bei Amazon herum und sehe mir auch noch Notebooks, Smartphones, Spielkonsolen, Kühlschränke, Pürierstäbe, Bücher und CDs an. Ganz so als ob ein Jugendlicher im Zeitschriftenladen bei den Herrenmagazinen erwischt wird, dann schnell zu den Comics abbiegt und sich schließlich zu den Computerzeitschriften hinüberrettet.
Ich überlege: wie macht Frank das? Frank kauft immer im Laden. Natürlich kauft er nie selbst, sondern drückt einem Schüler 10 Dollar in die Hand und schickt ihn in den Laden. Frank hat nie physischen Kontakt zur Ware. Frank scheut die Überwachungskameras an der Kasse. Ich will auch auf die Franksche Art kaufen und werde daher in einen Laden gehen, um mir dort anonym einen mobilen Computer zu kaufen.
Die nächste Hürde: Elektronik-Shopping im 21. Jahrhundert. Ich stelle ernüchtert fest, dass meine Lieblings-Computerläden im Rahmen der Einführung des Online-Zeitalters plötzlich verstorben sind.
Es gibt fast nur noch die großen Elektronik-Märkte und deren
Auswahl an Hardware ist stark begrenzt. Ich bin eher der Typ Kunde, der genau weiß, welche Computer-Konfiguration er will. Meine Wunsch-Hardware liegt nicht im Laden. Frank, Hilfe!
Ich bin sicher: Frank hätte jetzt den Schüler den Computer kaufen lassen, der gerade im Laden verfügbar ist. Zu wenig RAM, zu kleine SSD, zu schlechte Auflösung? Egal. Nur die Anonymität zählt. Mir ist es nicht egal – ich will die genau passende Hardware für mein Geld. Ich gehe nach Hause und überlege, wie ich das anstellen soll.
Über das Internet kaufen scheidet aus. Ich werde im Laden meine Wunsch-Hardware bestellen müssen. Ich nehme mal an die machen das auch im 21. Jahrhundert noch. Sie werden meinen Namen wissen wollen. Und meine Telefonnummer. Vielleicht noch meine E-Mail-Adresse … obwohl, ich kaufe ja im Laden, nicht im Internet.
Einen Tag später stehe ich im Laden und bestelle mit falschem Namen meinen Wunsch-Computer. Das Mädel an der Kasse verlangt meine E-Mail-Adresse. Ich zögere und biete ihr eine Telefonnummer an, aber sie besteht auf der E-Mail-Adresse. Ich gebe ihr spontan meine Spam E-Mail-Adresse.
Frank schreit mir ins Ohr („Fuck you fucking fucker!“), als er das hört, denn die Spam E-Mail-Adresse habe ich auf meinem Rechner zu Hause eingerichtet. Physischer Kontakt!
Wir halten fest: ich musste mir eine falsche Identität ausdenken, um anonym zu bleiben.
Unfassbar. Früher bin ich einfach in den Laden marschiert und habe mir anonym gekauft was immer ich wollte. Heute muss ich einen Namen und eine E-Mail-Adresse angeben. Ich frage mich, wie heutzutage Leute ohne E-Mail einkaufen sollen.
Wir halten fest: Man muss lügen (Name und E-Mail), um anonym Wunsch-Hardware einkaufen zu können.
Einige Wochen später bekomme ich per E-Mail mitgeteilt, dass meine Hardware zur Abholung bereit ist. Die E-Mail habe ich auf meinem Rechner zu Hause abgerufen – das Kind war eh schon in den Brunnen gefallen und Franks Flüche habe ich einfach ignoriert. Was soll’s – mit etwas Glück werden die im Computerladen meine falschen Daten vielleicht irgendwann löschen.
In Gedanken gehe ich mit Frank vorab den Einkaufsvorgang durch.
„Natürlich werde ich bar und nicht per EC Karte bezahlen – ich bin ja nicht blöd.“
„Nein Frank, ich werde keinen Schüler für 10 Euro in den Laden schicken – ich ziehe das selber durch.“
„Ja, die haben da eine Webcam an der Kasse, aber ein Computerladen darf aus rechtlichen Gründen nicht das Internet nach meinem Gesicht durchsuchen.“
„Nein, ich werde nicht wenigstens eine Sonnenbrille aufsetzen. Hey Frank, Du bist echt paranoid!“.
Noch nie war ich so nervös vor einem ganz normalen Einkauf.
Beim Betreten des Computerladens checke ich den gesamten Laden mit meinem Scanner-Blick ab. Nur über der Kasse hängt eine leicht vergilbte, etwas angestaubte Webcam. Ich gehe zur Kasse, lege meine Bestellbestätigung vor. Überrascht stelle ich fest, dass ich relativ wortkarg bin, ganz so, als ob es im Laden auch schon Stimmerkennung gäbe. Der Typ hinter der Theke verschwindet mit meinem Bestellzettel im Lager.
Ich warte und stelle fest, dass ich instinktiv meinen Kopf so drehe, dass mich die Webcam nur im Profil erwischt. Irgendwo habe ich gehört, dass 90 Prozent der Algorithmen zu Gesichtserkennung zuerst versuchen zwei Augen zu finden. Dann erst kann der Algorithmus eine Linie zwischen den Augen ziehen und sich danach zu Nase und Mund durchhangeln. Erst wenn Augen, Nase und Mund erkannt sind, können zuverlässig biometrische Merkmale ermittelt werden. Habe ich mal gehört. Ist lange her. Das ist vermutlich längst überholt, aber mein Kopf beharrt darauf, sich nur im Profil filmen zu lassen.
Der Verkäufer kehrt mit meinem Computer zurück. Ich zücke das Bargeld und bezahle. Eigentlich sollte mich Frank für den bewussten Verzicht auf Kredit- und Girokarte loben, aber mein imaginärer Frank wartet aus Protest draußen vor dem Laden. Wie gesagt: Frank würde niemals persönlich Dinge in einem Laden kaufen.
Der Verkäufer verabschiedet mich noch mit meinem falschen Namen, dann verlasse ich zügig den Laden, um mir draußen von Frank ausführlich erklären zu lassen, was ich für ein Stümper bin.
Ich bin dennoch euphorisiert und verspüre so etwas wie Triumph, weil ich „Die“ jetzt hinters Licht geführt habe.
Lesen Sie im nächsten Teil der Artikelserie, wie ich schließlich mit meiner anonymen Hardware anonym im Internet gesurft bin.